DIE FABEL VOM BIENENKÖNIG
PART I: DIE ALTE WELT
In meiner Vorbereitung auf die Rolle als Ritual Alchemist wurde mir aufgetragen, in die Welt, in die Stimme der Natur und seiner Menschen hineinzuhören….und dabei ist eine Geschichte…wer weiß…vielleicht zu mir geflogen, die unbedingt erzählt werden wollte.
Ich werde diese Märchen in Kapiteln jeden Abend für euch erzählen, doch Achtung - es ist keine Gute Nacht Geschichte. Sie soll euch nicht einlullen oder einfache Antworten geben. Sondern den Raum halten, für all die Erfahrungen, die ihr tagsüber gemacht habt. Sie ist eine Einladung an alle Hungrigen, Rebellischen, Tagträumenden - Alle, die mit mir ins Dunkle herabzusteigen wollen, in das Reich der Märchen, ans Feuer der Geschichten - kommt näher.
Jetzt sind wir also hier im Reich der Märchen zusammengekommen- und wer taucht da auf?
Ein Mann. Ist er ein Bösewicht? Oder war er ein Narr? Manchmal ist der Unterschied schwer zu erkennen. Was ich jedoch weiß, ist,
dass dieser Mann ein Land eroberte, das unserem gar nicht unähnlich ist. Und weil er dieses Land und seine Menschen so abschätzig betrachtete wie es nur Eroberer können, machte er es sich Untertan.
Je reicher er wurde, desto ärmer wurde sein Volk. Die Menschen in seinem Reich nennt er höhnisch sein “fleißigen Arbeiterbienen”, und sich selbst ihren Bienenkönig - dann presste er die süßen Früchte ihrer Arbeit bis aufs Letzte aus.
Dieser falsche Bienenkönig ergötzte sich daran seinem Volk alles zu nehmen, was er konnte: Zuerst nahm er ihnen die Verbindung zur Natur, indem er alle Fülle, die das Land hervorbrachte zu seinem Besitz erklärte. Dann nahm er ihnen die Verbindung zu ihren Mitmenschen, indem er alte Bräuche untersagte und Versammlungen verbot. Am Ende nahm er ihnen sogar die Verbindung zu sich selbst. Denn die Menschen begannen abzustumpfen und mit ähnlicher Manier wie ihr König zu handeln.
Mit dieser perversen Alchemie hatte er also das Gold dieses blühenden Reiches zu Staub und Asche verwandelt.
Doch als dann alles erobert und erreicht war, als sein Volk äußere wie innere Armut litt, da saß er in seinen vergoldeten Hallen - allein - und ein dunkler Gedanke begann sich in die leere Stelle auszubreiten, wo andere ein Herz tragen.
Wohin noch weiter wachsen, wenn sich sein Reich schon so weit erstreckte, dass die Sonne niemals unterging? Er hatte keinen Erben. Wer sollte sein Vermächtnis von Ruhm und Herrlichkeit weitertragen? Der Gedanke, eines zukünftigen Tages tot und vergessen zu sein, fraß sich immer tiefer in den Bienenkönig und stahl ihm jede Lust an seinem Reichtum.
Jetzt, da ihr um den Zustand des Reiches und seiner Menschen wisst, tauchen wir tiefer ein in die Märchenwelt. Es ist ein kühler Herbsttag. An diesem Tag dringt ein Geheimnis an das Ohr des Bienenkönigs. Ein sagenumwobenes Biest soll in den tiefsten Bergwäldern versteckt das Wissen der Lebendigkeit behüten!
Der Bienenkönig hört davon und alle Zweifel weichen dem Ziel mit dem Wissen der Lebendigkeit nun den Tod selbst zu knechten. Also schickte er seine Ritter aus, um eine Botschaft im ganzen Reich zu verkünden.
Lasst uns also den Blick weg von der kaltherzigen Königsburg richten, näher zu den sagenumwobenen Wäldern. Dort - brennt ein warmes Feuer in einem abgelegenen Bergdorf. Dort, wo die alten Bräuche noch nicht völlig ausgelöscht sind. Menschen versammeln sich um eine Feuerstelle. Die Botschaft des Bienenkönigs ist schon zu ihnen gedrungen:
Schon morgen werden auf Geheiß des Königs die jungen Dorfburschen eingezogen. Sie müssen in den tiefen Bergwäldern das Biest fangen und zum König bringen. Dann wird er schon aus dem Biest das Geheimnis der Lebendigkeit herauspressen und seinen Trank der Unsterblichkeit brauen.
Aufgeregtes Stimmengewirr erhebt sich über den Funken des Feuers.
Die Eltern rufen verzweifelt, dass ihre Jüngsten nicht bereit sind für diese gefährliche Aufgabe. Die Alten warnen - kaum einer, der sich aus dem Dorf hinaus in den Wald gewagt hat, war zurückgekommen. Da gibt es Ausrufe wie- der König hat uns schon alles genommen - nicht auch noch unsere Kinder! Unsere Zukunft!
Oder solche wie - der König muss gestürzt werden - notfalls mit Gewalt. Und gerade diejenigen, die in der Sicherheit des Dorfes verbleiben, geben leicht gesagte Ratschläge an die Jungen, die in die Ungewissheit aufbrechen.
Ein Mädchen sitzt auch am Feuer und hört mit großen Augen zu -
Sie ist gerade schon alt genug, um all die Geschichten der Angst, der Erstarrung, des Scheiterns, und Leids ertragen zu können. Und noch jung genug, sich trotzdem eine andere Welt vorstellen zu können.
Dieses Mädchen werden wir über die nächsten Tage noch besser kennenlernen. Für heute verlassen wir allerdings die Feuerstelle und die Menschen, um in unsere eigene Gemeinschaft zurückzukehren.
Und weil Märchen erst dann lebendig werden, wenn sie gemeinsam imaginiert werden möchte ich euch die gleichen Fragen mitgeben, die von den Menschen am Feuer besprochen wurden:
”Was trennt euch - von euch selbst, von anderen, von der Natur? Was macht euch Angst? Was brennt euch aus?” Ich lade euch jetzt ein, diese Gespräche ins Dunkle der Nacht zu tragen, zu unseren eigenen Feuerstellen, und bis in den nächsten Tag hinein, wo wir dann das 2. Kapitel des Märchens hören werden.
PART II: DER AUFBRUCH
Wir kehren im Winter zurück in das Dorf. Es sind Monate vergangen, seitdem die Jungen vom König in den Wald geschickt wurden. Zurückgekehrt ist keiner. Stattdessen werden die Hinterbliebenen von überwältigenden Gefühlen wie von Geistern heimgesucht. Bei den meisten kommt die Wut auf Besuch, und als die Wochen weiter ohne Neuigkeiten vergehen, dann die Hoffnungslosigkeit und schließlich die Trauer. Auch das Mädchen wird von diesen Gefühlen besucht, denn auch ihre Brüder sind unter den Vermissten.
In dem abgelegenen Dorf haben aber einige Rituale überlebt, die der König schon lange ausmerzen wollte. Eines dieser Rituale wurde für die Menschen überlebenswichtig: Fast jeder hält Bienen, die als nicht-menschliche Familienmitglieder gesehen werden, als Vermittlerinnen zur Natur, als Wanderer zwischen Himmel und Erde, Tod und Leben. Vor allem in Zeiten des Wandels und großer Umbrüche teilt man mit ihnen Trauer, Freude, Ängste und Träume. Denn die Dorfbewohner wissen: Sobald man mit einem lebendigen Wesen in Kontakt tritt, wird Beziehung gewebt. Ein Netz der Fürsorge und Verantwortung füreinander. Und das macht etwas mit der Seele.
Das weiß auch das Mädchen. Wie ihre Eltern und Großeltern und alle in den Jahrhunderten vor ihr, geht sie also jetzt auch durch den Schnee, klopft an ihren Bienenstock und hört ein Summen ertönen. Die Bienen erwachen aus ihrer Traube, eng zusammengedrängt, um den kalten Winter zusammen überleben zu können, und lauschen ihrer Stimme. Die Bienen lauschen aber auch all den anderen Stimmen von Menschen im ganzen Dorf und Reich, ja vielleicht sogar von unserem Bergdorf.
Die Bienen hören all das und verändern ihr Summen. Denn im Teilen unserer Empfindungen passiert die erste Alchemie in diesem Märchen. Wir alle kennen diesen Moment, der am Anfang jeder Geschichte steht. Etwas berührt dich so tief, dass du nicht weitermachen kannst wie bisher. Es ist der Abschied vom Dorf, von allem Bekannten. Es ist der Moment des Loslassens, vom Wunsch nach Sicherheit, und dann der Aufbruch ins Ungewisse des tiefen, dunklen Waldes. Hört das Mädchen, dass die Bienen schon begonnen haben, das Lied des Wandels in die Welt hinauszusingen? Spürt das Mädchen, dass sie jetzt gerade entschieden hat, ihre Brüder zu suchen? Glaubt sie, dass ihr die Reise gelingen wird? Oder spürt sie bloß, dass es notwendig ist, sie zumindest zu versuchen? Die Bienen summen unbeirrt weiter. Denn eines ist sicher: ausgesprochene Worte haben Macht, ja vielleicht sogar Magie.
Kurz vor Morgengrauen geht es dann los. Leichter Schneefall. Die Dorfmitglieder haben sich um das Mädchen versammelt. Alle haben Kostbarkeiten mitgebracht. Ratschläge, Nahrung, Waffen, magische Werkzeuge. Das Mädchen wägt alle Angebote ab, öffnet dann ihren Beutel und steckt ein: eine Schnur - um Dinge zu verbinden, die zusammengehören. Eine Schere, um Dinge zu trennen, die auseinandergehören. Und Eine Handvoll Zaubersamen - klein, leicht und so nahrhaft, dass sie Wochenlang davon zehren kann. Ungläubige Blicke. Ist das alles? Die Jungen hatten Schwerter und Schilde, Äxte und Netze und so viel mehr im schweren Marschgepäck.
Ich bin nicht so stark, ich will leicht reisen, sagt das Mädchen bloß, umarmt ihre Liebste, und geht dann - ein Schritt nach dem anderen - hinein in den Wald und die Ungewissheit.
Steil geht es bergauf. Der Wald wird dunkler, das Dickicht stärker. Der Winter wird kälter. Viele Prüfungen und Abenteuer erlebt sie beim Herumirren durch den Wald - die müssen aber an einem anderen Abend erzählt werden. Nur zwei sollen erwähnt werden - Einmal verbindet sie einem angriffslustigen Drachen die verletzten Flügel mit ihrer Schnur. Einmal kann sie sich von einer mordslustigen Dornenpflanze nur losreißen, indem sie ihren Mantel mit der Schere zerschneidet. Die Dinge in ihrem Beutel waren also weise gewählt. Doch bei allen guten Entscheidungen - Ihre Brüder findet sie allerdings nicht.
Ohne Mantel geht das Mädchen durch die Kälte des Winters weiter. Der Wald hält sie fest mit seinen knorrigen Fingern. Er zeigt ihr keinen Pfad, doch viel Sackgassen, geisterhafte Stimmen, die sie in Nebelsümpfe und Abgründe locken wollen - das Mädchen macht weiter- mal mit Tränen in den Augen, mal mit Angst im Bauch, vorwärts als einziger Weg. Und als sie keine Samen mehr im Beutel mit ihren hungrigen Fingern ertappen kann, da bleiben ihr bloß die Erinnerungen an ihre Brüder, ihr Dorf, und sie probiert davon zu zehren.
Genau an diesem schrecklichen Moment der Entbehrung müssen wir das Mädchen und das Märchen heute verlassen. Es gibt heute keine Auflösung. Keine Entspannung. Wir sind ganz tief drinnen im Geschichtenreich. Wir müssen hier der Not ins Angesicht blicken. Wie ihr vielleicht selbst heute bemerkt habt - Nur wer den Tiefpunkt kennt, kann aus der Tiefe verändern. Und so möchte ich euch heute Abend einladen, euch mit dem Tiefpunkt in eurer Geschichte nicht nur zu befassen, sondern anzufreunden. Denn es gibt Nahrung zu finden, selbst in dem Moment der größten Entbehrung.
PART III: DAS HERZ
Wir kehren zurück hoch in die Berge, tief in die Wälder. Und finden das Mädchen, als gerade ein Schneesturm aufzieht. Sie wird von den Naturgewalten immer weitergetrieben. Aber was ist das? Scheint es nur so? Je weiter sie der Sturm treibt, desto wärmer wird es. Die gefrorene Erde unter ihren Füßen wird zu Matsch. Aus dem Humus der Walderde schießen hellgrüne Halme hervor, Knospen entfalten sich an eben noch gefrorenen Astspitzen… Hat der Wald beschlossen, dass sie genug herumgeirrt ist?
Plötzlich steht das Mädchen auf einer Lichtung. Sie nimmt den Anblick in sich auf: Eine bunte Blumenwiese. Warmes Licht. Ein Ort, wo der aufkeimende Frühling niemals endet. Und da - mitten im Totholz einer alten Eiche - ein herzförmiges Bienennest, das von innen zu leuchten und pulsieren scheint. Und direkt davor: ihre drei Brüder. Lächelnd. Unversehrt. Doch als sie zu ihnen eilt, um ihnen um den Hals zu fallen …bemerkt sie... Golden leuchtende Augen. Schwarzer Pelz am ganzen Körper.
Die Brüder berühren sie sanft. “Welche Gaben bringst du Heim?”, summen sie ihr zu. Das Mädchen öffnet ihren Beutel, der nach der langen Reise leer ist. Sie hat nichts mehr anzubieten, dreht den Beutel um …doch da…rieselt ein letztes Samenkorn heraus, das in der aufgetauten Erde sofort zu keimen beginnt. Bis sich die Brüder gebeugt haben, um daran zu riechen, ist der Samen zu einer Blüte herangewachsen. Die Brüder nicken, und leiten sie ins Innere des Bienenherzes.
Im Inneren ist es stockdunkel. Das Mädchen wird blind, und gleichzeitig eröffnet sich ihr eine empfindsame Welt - voll Vibration und Gesang. Die warmen Körper anderer Bienen streichen sanft gegen ihren, wie eine allumfassende Umarmung. Der goldene Geruch des Nektars durchdringt die Wabengassen. Die Brüder leiten sie vorbei an der Kinderstube der Bienenlarven und bitten sie, besonders achtsam zu sein. Die Brüder, die vom König und seinen Rittern nur die Wege des Kampfes eingedrillt bekommen haben, übten hier nun die Kunst der Fürsorge. Und dann stehen sie vor ihr.
Das Mädchen spürt sofort, wer sie war. Die Jungfer, die Mutter, die Alte. Die Dienerin jeder einzelnen, die Königin aller. Ihr Geruch war Heimat, ihr Gesang Harmonie. “Willkommen, Kind. Wir erwarten dich seitdem deine Stockschwestern die Kunde von deinem Aufbruch aus dem Dorf zu uns getragen haben. Gefunden hast du uns nun, weil es so notwendig war. Also: welche Not kommst du zu wenden?”
Das Mädchen sucht nach klaren Worten, doch menschliche Gedankenstränge waren zunehmend schwierig zu knüpfen… Da waren die Brüder, die schwierigen Lebensbedingungen, ihre Dorfgemeinschaft und deren Wunsch nach Aufleben. Da war der verfluchte König und seine Suche nach Unsterblichkeit. Und da war das Biest- mit dem Geheimnis der Lebendigkeit.
Das Biest befühlte die Gedankenfäden des Mädchens eine Weile und sprach dann: Die Menschen nennen mich Bienenkönigin, doch ich bin keine Herrscherin. Ich bin, wie alle meine Töchter und Söhne hier, Dienerin der Lebendigkeit.
Lebendigkeit ist kein Geheimnis, das es zu hüten gilt. Man kann sie genauso wenig besitzen, wie man sie vernichten kann. Man kann die Lebendigkeit nur eine gewisse Zeit daran hindern, sich voll zu entfalten, so wie es dieser Narr am Thron eures Reiches tut, der sich König schimpft. Nichts hat er verstanden - das was ihr Menschen als Trank der Lebendigkeit benannt habt, macht nicht unsterblich, sondern ehrfürchtig.
Dann führt sie das Mädchen zur Wabenwand, wo der Trank von golden eingedicktem Nektar lagert. “Du kennst es von deinen eigenen Bienen. Sie sammeln Nektar, um ihre Gemeinschaft zu ernähren, ja, um zu überleben. Doch im gleichen Zuge, aus einer natürlichen Selbstverständlichkeit heraus - erfüllen sie damit den Traum jeder Blüte, Frucht werden zu dürfen. Den Traum, selbst Nahrung werden zu dürfen. Den Traum, sich als Samen in der Welt zu zerstreuen.
Und wenn nach entbehrungsreichen Wintern unsere frisch geschlüpften Bienen, vom Honig gestärkt zum ersten Mal ausfliegen, so landen sie auf den nächsten Blüten, gewachsen aus den erfüllten Träumen ihrer Vorfahren. Merke dir, Kind: Unser Akt der Hingabe ist, die ganze Welt in die Lebendigkeit zu lieben.”
“Willst du von diesem Nektar der Träume kosten, Kind”? Das Mädchen zögert nicht, saugt direkt aus der Wabe und plötzlich kann sie alles sehen: Sie sieht den Flug der Bienen, die die Träume einsammeln: von geöffneten Blütenkränzen, ja, aber auch von weißen Vogelschwingen, von taufeuchte Rehaugen, von den welken Gesichtern müder Holzfäller, und ja selbst von den goldglänzenden Gesichtern nobler Familien. Die Bienen sammeln all die diffusen Bilder, Wünsche, Visionen, all die wild und wandelbaren Träume.
Bei Besuch jedes Träumenden bleibt etwas von dem vorigen Besuch hängen. Die Bienen bringen dann den Nektar in den Stock, geben ihn vom Mund einer Schwester zur nächsten. Dicker, und dicker wird er, mit jedem Austausch wird etwas hinzugefügt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Träumenden lösen sich auf in diesem Trank. Bis am Ende der Nektar aller Träume süß, nährend, golden wird - Mehr als die Summe seiner Zutaten. Das ist die 2. Alchemie in unserem Märchen.
Von all den Lebewesen im Reich, die von einer besseren Zukunft träumen, läuft der Nektar der Träume in den Waben schon fast über. Voll, voll, übervoll! beginnen die Bienen im Stock zu summen. Auch das Mädchen spürt denselben Drang, sie will schwärmen. Ihre Brüder beginnen das Ausschwärmen anzuregen, dann ihre Stockschwestern, alle werden angesteckt von der Energie, beginnen zu singen, zu tanzen.
Es ist ein Fest, ein Gelage. Sie trinken, trinken, trinken, den goldenen Nektar, bis ihre Mägen fast überlaufen. Dann ein Tuten, das Aufbruchssignal. Weg von der Wärme des sicheren Nests im Wabenherz, hinaus, hinaus, wieder ins Nichtwissen, ins Nichts-beibt-wie-Früher, ins Noch-Nicht- Geborene - hinaus, und tief hinein, in die Welt, die gleichzeitig voller Zerstörung und Lebendigkeit ist.
Und wenn ich euch eine Frage mitgeben darf - die ihr mitnehmen könnt zu euren eigenen Festen, euren eigenen Dörfern und euren eigenen Träumen- was braucht ihr, um eure Träume und Visionen miteinander teilen, anreichern und eindicken zu können? Welche Alchemie braucht es jetzt, um daraus die Welt zurück in die Lebendigkeit zu lieben?
PART IV: DIE RÜCKKEHR
Wir haben das Mädchen verlassen zu dem Zeitpunkt, wo sich die Bienen bereit gemacht haben, zu schwärmen. Der Schwarm zieht jetzt über den Wald - der nun in grüner Pracht steht. Die Zeit im magischen Stock scheint langsamer vergangen zu sein als draußen in der Welt. Sie landen im Dorf, wo gerade der große Sommermarkt abgehalten wird. Schnell bildet sich ein Kreis um die Rückkehrenden.
Neben dem Mädchen waren nun ihre Brüder und all die anderen Jungen gelandet, die der König in den Wald geschickt hatte, auch andere Verschollene, tot Geglaubte, verrückt Erklärte, Menschen, die das Dorf verlassen hatten, auf der Suche nach unbekannten Pfaden. Die Dorfgemeinschaft betrachtet die Ankömmlinge verwirrt. Allesamt bekannte Gesichter, auf den ersten Blick - bis auf ihre Augen, die vom Nektar der Träume golden leuchten.
Das Mädchen schüttelt die Benommenheit des Fluges ab. Erinnert sich an den letzten Momente vor dem Ausschwärmen. Ihre Aufgabe ist klar. Die Lebendigkeit zurück in die Welt tragen. Dann war da diese aufbäumende Angst vor ihrer Rückkehr. Wie soll sie es schaffen? Sie ist doch nur ein Mädchen und die Kräfte des Königs scheinbar übermächtig. Was hatte die Bienenkönigin ihr noch gesagt? Wirf nicht der Larve vor, noch keine Biene zu sein. Beschäme nicht die Blüte, noch keine Frucht zu tragen. Verlange nicht von einer einzigen Biene, die ganze Welt lebendig zu machen. So viele Dinge passieren allmählich. So viele dann auf einmal. Du musst die Lebendigkeit nicht allein nähren.
Und so beginnen sie ihre Aufgabe mit einem Lied - ein Lied, das jede frisch geschlüpfte Biene zuggesungen bekommt. Es ist ein Lied von sich gegenseitig nähren. Nektar gibt es zum Glück in vielen Formen – Nektar der Träume, der Güte, Aufmerksamkeit, Mut, Dienst und Hingabe. Es ist ein Lied, das über Beziehungen und Begegnungen singt. Begegnungen, die aus Blüten Früchte und aus Träumen Wirklichkeit werden lassen. Es ist ebenso viel Lied, wie eine Erinnerung daran, dass wir alle miteinander verbunden sind.
Die Rückkehrenden singen, und endlich scheint der Bann gebrochen. Ihre Familien öffnen ihre Arme, es wird gelacht und geweint und gefeiert. Die Rückkehrenden erzählen von ihren Abenteuern und Erkenntnissen und sie verteilen den alchemische Honig, den sie aus dem Herz des Waldes mitgebracht haben.
Ist die Geschichte nun vorbei? Ist das das Happy End? Nun ja, keine Geschichte ist jemals fertig - man kann sie nur an einer interessanten Stelle stehen lassen. Und so bleiben trotz der Freude offene Fragen und Ungewissheit. Im Märchen genauso wie bei euch, die ihr euch bald aufmacht, wieder hinauszufliegen in eure Dörfer, Städte und Gemeinschaften.
Vielleicht fragt ihr euch: Was passiert mit den Menschen im Dorf wenn sie den alchemischen Honig aus dem Herz des Waldes kosten? Tja, Allheilmittel für die Gräuel im Reich ist er sicher nicht. Alles, was ich weiß ist - es ist ein mächtiges Gebräu, aufgeladen mit allen Träumen, Begegnungen und Austausch, die passiert sind. Wer davon trinkt, wird sich erinnern an die Weisheit der Bienen: Dass es immer Wege gibt, der Lebendigkeit zu dienen. Genauso wie die Bienen von den Blüten lustvoll angezogen werden, gibt es auch für uns Orte, wo wir gleichzeitig wirksam für die Welt sein können und uns selbst nähren. Diese gilt es zu finden. Und das ist nicht einfach - da werden viele schwere Zeiten, tyrannische Könige und kalte Winter kommen, und genau dann wird der Honig uns stärken.
Apropos König - was wird aus ihm? Wird er vom Mädchen gestürzt, so wie es die Heldinnen in den meisten Märchen mit den Bösewichten tun?
Genauso wie unsere eigene Geschichte ist auch diese noch nicht geschrieben, denn sie ist abhängig von den Handlungen aller Menschen im Reich. Doch wenn ich meine Vermutung aussprechen darf, … Dann werden einige der Rückkehrer, vielleicht die Brüder, in der Dorfgemeinschaft bleiben und ihr neues Wissen um die Fürsorge gleich anwenden, denn hier gibt es vieles zu tun.
Und andere, vielleicht das Mädchen, werden weiter schwärmen, um im ganzen Reich Menschen vom Honig kosten zu lassen. Vielleicht wird die Veränderung zuerst unscheinbar sein. Ein Traum, ausgesprochen und geteilt, statt für sich behalten. Eine tröstende Berührung, dort wo vorher keine war. Eine mutige Entscheidung, die vorher am Altar der Sicherheit geopfert wurde.
So schlägt das Herz der Lebendigkeit immer lauter. Im Reich immer mehr gemeinsam geträumt, miteinander gesprochen. Es wird verbunden, gesät und geerntet. Denn die dritte und letzte Alchemie - die liegt im Tun. In der Summe aller einzelnen Handlungen, die gemeinsam - karges Überleben in eine übermütige Lebendigkeit verwandeln.
Und der König - der wird weiter getrennt von der Welt im Gefängnis seiner selbst errichteten Burgmauern alles daran setzen, diese Entwicklung zu verhindern. Den Trank der Unsterblichkeit wird er nie finden, denn es gibt ihn nicht. Was es ganz sicher gibt, und was den König am Ende erwarten wird, ist die kleine Zwillingsschwester der Unsterblichkeit, nämlich die eigene Endlichkeit im großen Reigen des Lebens. Und wenn der König wieder Teil der Erde wird, die er sein ganzes Leben lang geringgeschätzt hat - da wird die Erde ihn gütig aufnehmen. Auf seinem Grab werden die schönsten Blüten wachsen. Und die Bienen - die werden daraus Nektar sammeln.